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Autosomal-rezessive Ataxien mit Beteiligung des Kleinhirns (= autosomal-rezessive cerebelläre Ataxien, ARCAs) sind dadurch definiert, dass in einem Gen auf beiden Genkopien Genveränderungen (Mutationen) vorliegen – und nicht nur eine Genkopie mutiert ist, wie bei den autosomal-dominanten Ataxien. In der Regel wird jeweils eine der beiden Genveränderungen vom Vater und eine von der Mutter vererbt. ARCAs entstehen – wie auch autosomaldominante Ataxien – ebenfalls aus dem Abbau bzw. Funktionsverlust (= Degeneration) des Kleinhirns und seiner zuführenden Nervenfaserstränge. Meist umfasst der Abbauprozess noch weitere (über das Kleinhirn hinausgehende) Nervenfaser-Systeme des Großhirns, Rückenmarks und oft auch der Bein- und Armnerven. 

Das bedeutet, dass ein ARCA-Erkrankter in der Regel nicht nur eine Kleinhirn-Ataxie, sondern zumeist auch weitere, darüber hinausgehende Symptome aufweist, z. B. Störungen des Lage- und Vibrationssinns für Füße und Hände (= Propriozeption), Lähmungen (= Paresen) oder Steifheit (= Spastik) der Beine und Arme, Krampfanfälle (= Epilepsie) oder Augenbewegungsstörungen (z. B. Lähmung der Augenmuskeln oder der Durchführung der schnellen Augenbewegungen). Mal können diese zusätzlichen Symptome nur leicht ausgeprägt sein, sodass sie nur dem Neurologen auffallen; mal können diese Störungen aber auch als allererstes auftreten – noch vor der Ataxie – und auch zur hauptsächlichen Beeinträchtigung im Alltag eines ARCA-Erkrankten führen. 

Meist beginnt eine ARCA im Kindes- oder jungen Erwachsenalter, seltener erst zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr, und nur in Ausnahmefällen noch später. Somit gehören ARCA im Regelfall zu den sog. frühbeginnenden Ataxien („early-onset ataxias“, EOAs). Sie stellen sehr seltene Erkrankungen dar: Etwa 2–3 pro 100.000 Personen haben in Europa eine ARCA. Das heißt, selbst in einer Stadt wie Bremen haben maximal 10–15 Personen eine ARCA.

Übersicht der autosomal-rezessiven Ataxien

ARSACS beginnt charakteristischerweise früh (<20. Lebensjahr) und führt neben der cerebellären Ataxie zu Spastik (durch Störung der motorischen Bahn im Rückenmark) und einer oftmals schweren Polyneuropathie (Leitungsstörung der Beinnerven).

Darüber hinaus findet sich bei > 90 % aller ARSACS-Betroffenen ein charakteristischer Befund im MRT, bestehend aus einer oberwurmbetonten Kleinhirnatrophie, beidseitigen symmetrischen Streifungen in der Brücke (Pons), einer Aufhellung in den beiden seitlichen Bereichen der Brücke (lateraler Pons, am Übergang zu Kleinhirnstielen) und hellen Umrandungen der Thalami („bithalamische Streifen“). 

Allerdings werden diese MRT-Auffälligkeiten in der radiologischen Routine häufig übersehen, sodass betreuende Ärzte die MRT-Bildgebung aller ARCA-Patienten immer noch einmal selbst durchsehen sollten, ob sich diese charakteristischen Befunde nicht doch finden lassen. Ein weiterer diagnostischer Biomarker ist eine Verdickung der Nervenfaserschicht in der Netzhaut (retinale Nervenfasern), die in einer augenärztlichen Schichtaufnahme (optische Kohärenztomographie, OCT) erkennbar ist. Bei vielen ARSACS-Betroffenen findet sich auch eine Veränderung in den kognitiven Fähigkeiten und der Affektregulation, welche aber bei der Mehrheit nur zu leichten Einschränkungen in den Alltagsfähigkeiten führen. 

Genauere Charakterisierungs- und vor allem Längsschnitt-Untersuchungen zum natürlichen Erkrankungsverlauf werden gerade an verschiedenen europäischen Zentren durch das PROSPAX-Konsortium durchgeführt. Eine Reihe von molekularen Therapieansätzen sind aktuell in der Entwicklung, befinden sich aber allesamt noch im Tier- und Zellversuchsstadium und noch nicht in der klinischen Anwendung.

Die Ataxia Teleangiectasia (AT) wird durch Genveränderungen im ATM-Gen verursacht Friedreich-Ataxie (FA) (Friedreich-Krankheit; Morbus Friedreich), das an der Reparatur der Erbmaterials (DNA-Doppelstränge) in den Zellkernen beteiligt ist. 

Neben einer Kleinhirnataxie kommt es hier zu einer Störung von schnellen Augenbewegungen (okulomotorische Apraxie), Überbewegungen der Hände (Hyperkinesien), Fehlhaltungen der Gliedmaßen (Dystonie) und Störung der Fuß- und Handnerven (sensomotorische Neuropathie). Die gestörte Reparatur der DNA führt dazu, dass Strahlenauswirkungen auf die DNA, z. B. von Röntgenstrahlen, nicht repariert werden können und auch Krebs- Arten schneller entstehen können (vor allem Blutkrebs, wie z. B. Lymphome oder Leukämie). 

Darum sollten insbesondere Röntgenstrahlen bei AT so gut es geht vermieden werden und regelmäßige Krebsvorsorgeuntersuchungen erfolgen. Im Blut findet sich bei den allermeisten AT-Betroffenen das Eiweiß Alphafetoprotein (AFP) erhöht; diese Erhöhung hat wahrscheinlich keine krankmachende Relevanz per se, hilft jedoch als Blutmarker, um eine AT zu diagnostizieren. Dagegen sind mehrere Botenstoff-Eiweiße des Immunsystems (sog. Immunglobuline) vermindert. 

Dieses erklärt, warum AT-Patienten vermehrt zu Infekten neigen und daher eines höheren Schutzes vor Infekten bedürfen. Meist beginnt die AT bereits vor dem 10. Lebensjahr, wobei nun zunehmend auch Betroffene mit ungewöhnlich spätem Erkrankungsbeginn >20. Lebensjahr identifiziert werden. Der spätere Beginn und mildere Verlauf ist hier dadurch zu erklären, dass die Genvarianten in dem ATMGen noch eine gewisse Restaktivität des ATM-Eiweißes zulassen. 

So können hier auch charakteristische Zusatz-Eigenschaften der klassischen AT-Erkrankung – wie z. B. die Augenbewegungsstörung oder die AFP-Erhöhung – u. U. fehlen. Da ohne diese charakteristischen Krankheitszeichen der klinische Verdacht auf eine AT-Erkrankung viel schwieriger zu stellen ist, erklärt dieses, warum diese Kranken oftmals erst später diagnostiziert werden. Therapeutisch wurden positive Kurzzeit- Effekte auf neurologische Funktionsstörungen durch bestimmte Cortison-Präparate (Betamethason) berichtet. 

Diese scheinen aber nach wenigen Monaten wieder zurückzugehen, sodass – auch angesichts der Nebenwirkungen einer Langzeittherapie mit Cortison-Präparaten – weitere Langzeitstudien abzuwarten sind, ob der Nutzen wirklich die Nebenwirkungen überwiegt. 

Die Friedreich-Ataxie (FA) ist die häufigste ARCA: Sie macht 50 % aller ARCAs aus. Meist beginnt sie vor dem 25. Lebensjahr, kann jedoch auch noch nach dem 40. Lebensjahr auftreten. 

Sie wird durch übermäßige Wiederholungen bestimmter Abschnitte (= GAA-Repeatexpansionen) in Intron 1 im FXN-Gen (Normalbereich 5–33 Wiederholungen; Ataxie verursachend > 65 Wiederholungen) bedingt, wodurch wiederum zu wenig des FA-Eiweißes („Frataxin“) gebildet wird. Somit wird es ein Schlüssel künftiger Therapieansätze sein, durch Medikamente oder genetische Therapien die Bildung dieses Eiweißes zu steigern. Die FA betrifft zwar teilweise auch das Kleinhirn (hier vor allem die Kleinhirnkerne), vorrangig betrifft sie jedoch die Nervenzellen im Rückenmark, welche Lagesinn- und Vibrationsinformationen von den Beinen und Armen ans Gehirn weiterleiten (Spinalganglien). Dies führt dazu, dass die Ataxie dann besonders ausgeprägt ist, wenn man auf diese Informationen angewiesen ist: Im Dunkeln oder wenn man seine Extremitäten nicht sieht. Darüber hinaus betrifft sie auch die lange „Kraftbahn“ im Rückenmark (Pyramidenbahn), über die die Muskeln gesteuert werden.

Hierdurch kommt es zu Schwäche (Paresen) und Steifheit (Spastik) an Beinen und Armen. Durch diese kombinierte Schädigung mehrerer Rückenmarksbahnen bilden sich oft typische Hohlfüße (Pes cavus) und fehlerhafte Verkrümmungen der Wirbelsäule (Skoliose). Die FA bleibt aber oft nicht auf das Nervensystem begrenzt, sondern kann auch das Herz [Herzwandverdickung (Kardiomyopathie), Herzrhythmusstörungen) und – wenngleich seltener – die Bauchspeicheldrüse (Diabetes mellitus) und auch die Hör- und Sehnerven betreffen. Eine reduzierte Lebenserwartung ist gerade bei frühem Beginn der FA möglich; da diese vorrangig durch Komplikationen der Herzmitbeteiligung bedingt ist, gilt es, diese durch regelmäßige kardiologische Kontrollen stets im Blick zu behalten – selbst dann, wenn man als FA-Betroffener subjektiv gar keine Herz-Symptome bemerkt. Da die FA schon am längsten bekannt und relativ häufig ist und bereits zentrale Krankheitsmechanismen erforscht sind, sind hier auch molekulare Therapieansätze am weitesten. Diese fokussieren sich zum einen auf die Steigerung des Frataxin-Eiweißes; zum anderen auf die Folgen des Fehlens dieses Eiweißes in der Zelle, hier vor allem auf eine Reduktion der Schädigung der Mitochondrien als Energielieferanten der Körperzellen und des oxidativen Stresses. 

So zeigte eine jüngst berichtete Phase-2/3-Studie mit einem Aktivator der oxidativen Stress-Antwort namens Omaveloxolone erste ermutigende Effekte auf eine Verlangsamung der neurologischen Funktionsstörungen. Es bleibt aber aktuell noch abzuwarten, ob sich diese Effekte bestätigen, sie von ausreichend großer Effektgröße für den Alltag sind und diese Substanz tatsächlich zur Anwendung zugelassen wird.

Die POLG-assoziierte Ataxie beginnt im Mittel mit 26 Jahren (Spanne: 7–52 Jahre). Entsprechend der mitochondrialen Funktion des Eiweißes entspricht das klinische Erscheinungsbild einer „mitochondrialen Ataxie“. 

Charakteristisch ist hier eine Kombination aus einer gemischten Kleinhirn-plus- Hinterstrang-Ataxie (ähnlich wie bei FA und RFC1), einer fortschreitenden Lähmung der Augenmuskeln (chronische externe Ophthalmoparese, cPEO), welche oft schon der Ataxie vorausgeht, und einer Schädigung der Nerven an Armen und Beinen (sensible axonale Polyneuropathie). Zu diesen Kernsymptomen treten bei POLG oft in unterschiedlicher Häufigkeit weitere neurologische Symptome wie beidseits herabhängendes Augenlid (Ptosis, bei ca. 70 %), Krampfanfälle (Epilepsie, bei ca. 40 %) und Bewegungsstörungen wie Chorea, Dystonie oder Myoklonus, jeweils bei ca. 20-30 %, hinzu. Oft besteht im MRT nur eine leichtgradige Kleinhirnatrophie. 

Einen Therapieansatz, der die Ursache der Erkrankung behandeln kann, gibt es bislang noch nicht. 

Die RFC1-Ataxie ist eine erst im Jahr 2019 entdeckte Ataxie, die wahrscheinlich die zweithäufigste ARCA darstellt. 

Sie ist jedoch mit 2-6 % aller ARCAs schon ungleich seltener als die FA. Wie die FA, wird auch sie durch übermäßige Wiederholungen (= AAGGG-Repeatexpansionen) in einem Intron des entsprechenden Gens (RFC1-Gen) verursacht. Während die FA meist vor dem 30. Lebensjahr beginnt, beginnt die RFC1-Ataxie meist nach dem 40. Lebensjahr. Ähnlich der FA betrifft auch sie neben dem Kleinhirn führend die langen Nervenbahnen, welche Lagesinn- und Vibrationsinformationen von den Beinen und Armen ans Gehirn weiterleiten. Überdies ist bei der RFC1-Ataxie aber häufig auch beidseits der Gleichgewichtsnerv betroffen. Die Kombination aus Störung des Kleinhirns, der Empfindungsleitung in den langen Nervenbahnen zu den Beinen und der Gleichgewichtsorgane wird mit der Abkürzung „CANVAS“ zusammengefasst (cerebelläre Ataxie mit Neuropathie und vestibulärer Areflexie-Syndrom).

Darüber hinaus wird diese Ataxie von einem über viele Jahrzehnte anhaltenden Husten begleitet, welcher teilweise der Ataxie auch schon über viele Jahre vorausgehen kann. In unterschiedlichem Ausmaß treten auch anderweitige Bewegungsstörungen, Blasenstörungen und relativ früh im Krankheitsverlauf Sprech- und Schluckstörungen auf.

Der genaue Krankheitsmechanismus der RFC1-Ataxie – und damit auch etwaige molekulare Therapieansätze – ist noch unbekannt.

Genveränderungen in dem Gen SPG7 wurden lange nur bei Erkrankten mit Spastik (hereditäre spastische Spinalparalyse, HSP) in Betracht gezogen, nicht aber bei Erkrankten mit Ataxie. 

In den letzten 10 Jahren wurde jedoch deutlich, dass nicht nur 30–60 % aller SPG7-Patienten auch eine begleitende Ataxie haben, sondern dass Ataxie auch das führende – und teilweise sogar einzige – Symptom der Erkrankung sein kann. Insbesondere die häufige Genveränderung p.Ala510V scheint häufig zu einer Ataxie zu führen. 

Inzwischen wird angenommen, dass SPG7-Ataxie sogar häufiger sein könnte als ARSACS. Zumeist ist bei der SPG7-assozierten Ataxie neben dem Kleinhirn auch die zentrale motorische Bahn im Rückenmark (Pyramidenbahn) gestört, was sich mit Steifigkeit (Spastik) äußert; darum spricht man bei diesem Erscheinungsbild auch von einer „spastischen Ataxie“. Die Spastik tritt meist jedoch erst im Verlauf der Erkrankung auf und fehlt am Krankheitsbeginn bei bis zu 65 % der Erkrankten mit SPG7-Ataxie. Das durch das SPG7-Gen codierte Eiweiß Paraplegin ist in den Mitochondrien der Zellen verortet. Dieses erklärt, warum neben Kleinhirn und Pyramidenbahn oftmals noch weitere Teile des Nervensystems betroffen sind, wie man es bei anderen mitochondrialen Erkrankungen kennt: Lähmung der Augenmuskeln (Ophthalmoparese), Strukturabbau des Sehnervs (Optikusatrophie) oder beidseitig herabhängendes Augenlid (Ptosis). 

Bei SPG7-Ataxie bleiben die hieraus entstehenden Funktionseinbußen jedoch zumeist mild und entstehen erst später im Krankheitsverlauf. Sie fallen meist eher dem untersuchenden Neurologen bzw. Augenarzt als dem Betroffenen selbst auf. SPG7-Ataxie beginnt später als viele anderen ARCAs, im Mittel erst zwischen dem 35. und 40. Lebensjahr, allerdings mit einer recht großen Spannweite (10–70 Jahre).

Genauere Längsschnitt-Untersuchungen zum natürlichen Erkrankungsverlauf werden jedoch gerade erst an verschiedenen europäischen Zentren durch das PROSPAX-Konsortium durchgeführt. 

Genveränderungen im SYNE1-Gen („synaptic nuclear envelope protein 1“) verursachen in einem Teil der Fälle rein zerebelläre, relativ langsam verlaufende Ataxien mit normaler Lebenserwartung. 

In anderen Fällen kann die Ataxie mit einer Spastik (durch Beteiligung der Pyramidenbahn), Muskelabbau (durch eine Polyneuropathie) oder auch kognitiven Einschränkungen einhergehen. Korrespondierend zeigt sich bei einem Teil der SYNE1-Betroffenen im MRT eine Kleinhirnatrophie ohne wesentliche weitere Beteiligung anderer Anteile des Gehirns, während bei anderen Betroffenen auch der Hirnstamm und das Großhirn betroffen sein können. Der Krankheitsbeginn variiert stark (Spanne: 6–46 Jahre). 

Einen Therapieansatz, der die Ursache der Erkrankung behandeln kann, gibt es bislang noch nicht. 

Ausblick

Die rasanten Fortschritte in der genetischen Diagnostik in den letzten Jahren haben es ermöglicht, eine große Zahl neuer ARCAs zu entdecken. Dadurch ist es nun möglich, dass die Mehrheit aller ARCA-Patienten eine molekulare Diagnose erhält. Zwar gibt es erst für relativ wenig ARCAs eine kausale Therapie. Die Identifizierung und Zuordnung einer molekularen Diagnose erlaubt es jedoch, erstmalig Therapien spezifisch für den jeweiligen Erkrankungsmechanismus zu entwickeln – und stößt so die erste, zentrale Tür auf dem mehrstufigen Weg Richtung ursächlicher Therapien auf.